SIEBEN

Damen fährt schnell. Wahnsinnig schnell. Aber nur weil wir alle beide über einen übersinnlichen Radar verfügen, der sehr praktisch ist fürs Aufspüren von Cops, Gegenverkehr, Fußgängern, streunenden Tieren und allem Weiteren, was uns in die Quere kommen könnte, heißt das nicht, dass wir das missbrauchen dürfen.

Doch Damen sieht das anders. Und deshalb wartet er auch bereits vor meinem Haus auf der Veranda, ehe ich anhalten und parken kann.

»Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr.« Er lacht und folgt mir hinauf in mein Zimmer. Dort lässt er sich aufs Bett fallen, zieht mich mit sich hinunter und beugt sich zu einem schönen, langen Kuss über mich - einem Kuss, der, wenn es nach mir ginge, nie mehr aufhören würde. Ich würde mit Freuden den Rest der Ewigkeit in seinen Armen verbringen. Allein das Wissen, dass wir unendlich viele Tage Seite an Seite verbringen werden, macht mich so glücklich, dass ich beinahe platze.

Allerdings habe ich das nicht immer so empfunden. Ich war sogar ziemlich sauer, als ich die Wahrheit erfuhr. So sauer, dass ich mich eine Zeit lang von ihm fernhielt, bis ich alles gedanklich verarbeitet hatte. Schließlich sagt nicht jeden Tag jemand zu einem: Ach, übrigens, ich bin unsterblich, und ich habe dich auch unsterblich gemacht.

Und obwohl ich ihm zuerst gar nicht glauben wollte, konnte ich, nachdem er mir Schritt für Schritt in Erinnerung gerufen hatte, wie ich bei dem Unfall ums Leben gekommen war, wie ich ihm genau in dem Moment, als er mich ins Leben zurückholte, in die Augen gesehen und wie ich diese Augen wiedererkannt habe, als ich ihm zum ersten Mal in der Schule begegnet bin, einfach nicht mehr leugnen, dass es stimmte.

Das heißt allerdings nicht, dass ich es bereitwillig akzeptiert habe. Es war schon schlimm genug, mit der Masse von übersinnlichen Fähigkeiten klarzukommen, die mein NTE (Nahtoderlebnis - sie bestehen darauf, es Nahtod zu nennen, obwohl ich tatsächlich tot war) verursacht hat, und wie ich auf einmal die Gedanken anderer Menschen hören konnte oder auf Berührung ihre Lebensgeschichte erfuhr und wie ich mit Toten sprach und noch mehr. Ganz zu schweigen davon, dass unsterblich zu sein, auch wenn es noch so cool klingt, bedeutet, dass ich nie die Brücke überqueren werde. Ich werde es nie auf die andere Seite schaffen und meine Familie wiedersehen. Und das ist - wenn man sich's genau überlegt - ein ziemlich großes Opfer.

Ich weiche zurück und löse widerwillig meine Lippen von seinen, ehe ich ihm in die Augen blicke - dieselben Augen, in die ich seit vierhundert Jahren sehe. Doch sosehr ich mich auch anstrenge, ich kann mir unsere Vergangenheit nicht in Erinnerung rufen. Nur Damen, der die letzten sechshundert Jahre der gleiche geblieben ist und weder gestorben ist noch wiedergeboren wurde, hält den Schlüssel dazu in der Hand.

»Was denkst du?«, fragt er und streicht mir mit den Fingern über die Wange, wobei er eine Spur der Wärme hinterlässt.

Ich hole tief Luft, weil ich weiß, wie viel ihm daran liegt, in der Gegenwart zu bleiben, doch ich will unbedingt mehr über meine Geschichte - unsere Geschichte - wissen. »Ich habe gerade daran gedacht, wie wir uns das erste Mal gesehen haben«, sage ich. Sofort heben sich seine Brauen, und er schüttelt den Kopf.

»Ja? Und woran erinnerst du dich da genau?«

»An gar nichts.« Ich zucke die Achseln. »Überhaupt nichts. Deswegen hoffe ich ja, dass du mich aufklärst. Du musst mir nicht alles sagen - ich meine, ich weiß ja, wie ungern du zurückschaust. Aber ich bin eben neugierig darauf, wie alles angefangen hat - wie wir uns kennen gelernt haben.«

Er macht sich los und dreht sich auf den Rücken. Sein Körper liegt ruhig da, seine Lippen bewegen sich nicht, und ich fürchte, dass dies die einzige Antwort ist, die ich bekommen werde.

»Bitte?«, murmele ich, während ich zu ihm hinrutsche und mich an ihn schmiege. »Es ist einfach nicht fair, dass du sämtliche Einzelheiten kennst und ich völlig im Dunkeln tappe. Gib mir doch mal einen Anhaltspunkt. Wo haben wir gelebt? Wie habe ich ausgesehen? Wie haben wir uns kennen gelernt? War es Liebe auf den ersten Blick?«

Er weicht kaum merklich zurück, dreht sich auf die Seite und vergräbt eine Hand in meinem Haar, ehe er zu sprechen beginnt. »Es war in Frankreich, 1608.«

Ich schnappe nach Luft, während ich begierig lausche.

»In Paris, genauer gesagt.«

Paris! Augenblicklich sehe ich aufwändige Roben vor mir, heimliche Küsse auf dem Pont Neuf, Klatsch mit Marie Antoinette ...

»Ich war bei einem Freund zum Essen eingeladen ...« Er hält inne, blickt an mir vorbei und ist bereits Jahrhunderte weit weg. »Und du warst dort Dienerin.«

Dienerin?

»Eine ihrer Dienerinnen. Sie waren sehr reich. Sie hatten viele Bedienstete.«

Sprachlos liege ich da. Das hatte ich nicht erwartet.

»Du warst nicht wie die anderen«, sagt er mit fast zum Flüsterton gedämpfter Stimme. »Du warst schön. Außergewöhnlich schön. Du hast ziemlich genauso ausgesehen wie jetzt.« Er lächelt, greift nach einer meiner Haarsträhnen und reibt sie zwischen den Fingern. »Und genau wie jetzt warst du Waise, du hattest deine Familie in einem Feuer verloren. Du warst völlig mittellos und hattest niemanden, der dich unterstützt hätte, und so haben meine Freunde dir Arbeit gegeben.«

Ich schlucke schwer und weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich meine, was hat eine Reinkarnation schon für einen Sinn, wenn man gezwungen ist, die gleichen schmerzlichen Momente wieder und wieder zu erleben?

»Und ja, nur damit du es weißt, es war Liebe auf den ersten Blick. Ich habe mich mit Haut und Haar und für alle Zeiten in dich verliebt. Im ersten Moment, als ich dich sah, wusste ich, dass mein Leben nie wieder so sein würde wie zuvor.«

Er sieht mich an, die Finger an meinen Schläfen, während sein Blick mich hineinzieht, mir den Moment in all seiner Intensität präsentiert und die Szene ablaufen lässt, als wäre ich mittendrin.

Mein blondes Haar ist unter einer Haube versteckt, meine blauen Augen sind scheu und vermeiden ängstlich jeden Blickkontakt, meine Kleider sind schäbig und meine Finger so rau, dass meine Schönheit verdeckt und leicht zu übersehen ist.

Doch Damen erkennt sie. Sowie ich den Raum betrete, findet sein Blick den meinen. Er blickt durch mein tristes Äußeres hindurch bis zu der Seele, die sich nicht verbergen lässt. Und er ist so dunkel, so markant, so fein, so gut aussehend, dass ich mich abwende. Ich weiß, dass allein die Knöpfe an seiner Jacke mehr wert sind, als ich in einem Jahr verdienen werde. Ich weiß, ohne ein zweites Mal hinzusehen, dass er außerhalb meiner Reichweite ist...

»Trotzdem musste ich vorsichtig sein, weil...«

»Weil du bereits mit Drina verheiratet warst!«, flüstere ich, während ich die Szene in meinem Kopf verfolge und einen der Tischgäste nach ihr fragen höre. Unsere Blicke streifen sich rasch, als Damen ihm antwortet.

»Drina ist in Ungarn. Wir gehen mittlerweile getrennte Wege.« Er weiß, dass er damit einen Skandal auslöst, aber ihm ist wichtiger, dass ich es höre, als was die anderen denken ...

»Sie und ich haben bereits getrennt gelebt, also war das kein Problem. Allerdings musste ich vorsichtig sein, denn Verbindungen außerhalb der eigenen Gesellschaftsschicht waren damals streng verpönt. Und weil du so unschuldig und in so vieler Hinsicht so verletzlich warst, wollte ich dir keinen Ärger verursachen, vor allem falls du nicht genauso empfändest.«

»Aber ich habe genauso empfunden!«, sage ich und sehe vor mir, wie es nach diesem Abend mit uns weitergeht und ich ihm jedes Mal begegne, wenn ich in der Stadt bin.

»Mir blieb nichts anderes übrig, als dir nachzustellen.« Er sieht mich mit kummervoller Miene an. »Bis wir einander schließlich so oft über den Weg gelaufen waren, dass du Vertrauen zu mir gefasst hast. Und dann ...«

Und dann treffen wir uns heimlich — verstohlene Küsse vor dem Dienstboteneingang, eine leidenschaftliche Umarmung in einer dunklen Gasse oder in seiner Kutsche ...

»Erst jetzt weiß ich, dass ich nicht annähernd so diskret war, wie ich dachte.« Er seufzt. »Drina war überhaupt nie in Ungarn, sie war die ganze Zeit da. Sie hat beobachtet und geplant, entschlossen, mich zurückzugewinnen - koste es, was es wolle.« Er holt tief Luft, und der Kummer aus vier Jahrhunderten zeichnet sich auf seiner Miene ab. »Ich wollte mich um dich kümmern, Ever. Ich wollte dir alles geben, was dein Herz begehrte. Ich wollte dich verwöhnen wie die Prinzessin, als die du eigentlich hättest geboren werden sollen. Und als ich dich endlich überredet hatte, mit mir durchzubrennen, habe ich mich so glücklich und lebendig gefühlt wie noch nie. Wir wollten uns um Mitternacht treffen ...«

»Aber ich bin nicht gekommen«, sage ich, während ich ihn auf und ab gehen sehe, voller Sorge, aufgewühlt und fest davon überzeugt, dass ich es mir anders überlegt hätte.

»Erst am nächsten Tag habe ich erfahren, dass du bei einem Unfall ums Leben gekommen bist, auf dem Weg zu unserem Treffen von einer Kutsche überfahren.« Und als er sich mir zuwendet, zeigt er mir seinen Schmerz - seinen unerträglichen, verzehrenden, herzzerreißenden Schmerz. »Damals wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass Drina dafür verantwortlich war. Ich hatte keine Ahnung, bis sie es dir gestanden hat. Es sah aus wie ein Unfall, ein schrecklicher, tragischer Unfall. Und ich war wohl einfach zu sehr vom Schmerz überwältigt, um irgendetwas anderes zu vermuten.«

»Wie alt war ich da?«, frage ich, wobei ich kaum atmen kann. Ich weiß, dass ich sehr jung war, aber ich will die Einzelheiten wissen.

Er zieht mich an sich und fährt mir mit den Fingern sachte übers Gesicht, während er antwortet. »Du warst sechzehn, und dein Name war Evaline.« Seine Lippen spielen an meinem Ohr.

»Evaline«, flüstere ich und fühle mich sofort mit meinem tragischen früheren Ich verbunden, das sich - jung verwaist, von Damen geliebt und mit sechzehn gestorben - nicht so sehr von meinem derzeitigen Ich unterscheidet.

»Erst viele Jahre später, als ich dich in Neuengland wiedersah, wo du als Tochter eines Puritaners wiedergeboren worden warst, begann ich, erneut an das Glück zu glauben.«

»Die Tochter eines Puritaners?« Ich blicke ihm in die Augen und sehe zu, wie er mir ein dunkelhaariges, blasses Mädchen in einem strengen blauen Kleid zeigt. »Waren all meine Leben so langweilig?« Ich schüttele den Kopf. »Und was für ein schrecklicher Unfall hat mich diesmal umgebracht?«

»Du bist ertrunken.« Er seufzt, und sowie er es ausgesprochen hat, überfällt mich erneut sein ganzer Schmerz. »Ich war so verzweifelt, dass ich sofort nach London zurückgefahren und einige Jahre mit Unterbrechungen dort geblieben bin. Und als ich gerade nach Tunesien abreisen wollte, bist du als schöne, reiche - und auch reichlich verwöhnte, wie ich sagen muss - Tochter eines Großgrundbesitzers in London wieder aufgetaucht.«

»Zeig's mir!« Ich schmiege mich an ihn, begierig darauf, ein glamouröseres Leben zu sehen. Sein Finger fährt mir zart über die Stirn, während in meinem Kopf das Bild einer hübschen Brünetten in einem umwerfenden grünen Kleid mit einer komplizierten Frisur und mehreren Schmuckstücken entsteht.

Ein reiches, verwöhntes, intrigantes und kokettes Mädchen, dessen Leben eine Abfolge von Partys und Shoppingtouren ist und das sich eigentlich einen anderen in den Kopf gesetzt hat, ehe sie Damen kennen lernt...

»Und dann?«, frage ich, traurig über ihr Ableben, doch ich muss wissen, wie es passiert ist.

»Ein schrecklicher Sturz.« Er schließt die Augen. »Damals war ich überzeugt davon, dass ich bestraft werden soll - ich habe zwar das ewige Leben, aber es ist ein Leben ohne Liebe.«

Er umfasst mein Gesicht mit beiden Händen, wobei seine Finger so viel Zärtlichkeit und Verehrung und ein so warmes Kribbeln ausstrahlen, dass ich die Augen schließe und mich enger an ihn kuschele. Ich konzentriere mich darauf, seine Haut zu spüren, während sich unsere Körper fest aneinanderdrücken und alles um uns herum verschwindet, bis es nur noch uns gibt - keine Vergangenheit, keine Zukunft, nichts als diesen Moment in der Zeit.

Ich meine, ich bin bei ihm, und er ist bei mir, und so soll es bis in alle Ewigkeit sein. Und obwohl all diese früheren Leben interessant sein mögen, war ihr einziger wirklicher Zweck, uns zu diesem zu führen. Und jetzt, da Drina weg ist, gibt es nichts mehr, das uns im Weg stehen könnte, nichts mehr, das uns daran hindern könnte weiterzugehen - außer mir selbst. Und obwohl ich alles wissen will, was vorher geschehen ist, kann das fürs Erste warten. Es ist höchste Zeit für mich, meine kleinlichen Eifersüchteleien und Unsicherheiten zu überwinden, nicht mehr nach Ausreden zu suchen und nach all den Jahren endlich den großen Sprung zu wagen.

Doch gerade als ich es ihm sagen will, rückt er so abrupt von mir ab, dass ich einen Moment brauche, bis ich wieder neben ihm bin.

»Was ist denn?«, schreie ich, als ich sehe, wie er sich die Daumen in die Schläfen presst und um Luft ringt. Als er sich mir zuwendet, scheint er mich nicht zu erkennen. Sein Blick geht regelrecht durch mich hindurch.

Doch kaum habe ich es bemerkt, ist es auch schon wieder vorbei - abgelöst von seiner liebevollen Wärme, die ich mittlerweile so gewöhnt bin. Er reibt sich die Augen, schüttelt den Kopf und sieht mich an, ehe er spricht. »So habe ich mich nicht mehr gefühlt seit...« Er hält inne und blickt ins Leere. »Oder vielleicht noch nie.« Doch als er meine besorgte Miene sieht, fügt er hinzu: »Mir fehlt nichts, ehrlich.« Und als ich ihn immer noch nicht loslasse, lächelt er. »Hey, wie wär's mit einem Ausflug ins Sommerland?«

»Im Ernst?«, frage ich mit leuchtenden Augen.

Während meines ersten Besuchs an diesem wundervollen Ort, dieser magischen Dimension zwischen den Dimensionen, war ich tot. Und ich war so fasziniert von seiner Schönheit, dass ich gar nicht mehr wegwollte. Zum zweiten Mal war ich mit Damen dort. Und seit er mir gezeigt hat, was für herrliche Dinge dort möglich sind, sehne ich mich dorthin zurück. Doch da Sommerland nur von spirituell Hochentwickelten (oder bereits Toten) betreten werden kann, komme ich nicht allein hin.

»Warum nicht?« Er zuckt die Achseln.

»Und was ist mit meinem Unterricht?«, frage ich und heuchle Interesse daran, zu studieren und neue Tricks zu lernen, wo ich doch in Wirklichkeit viel lieber ins Sommerland reisen würde, wo alles mühelos und sofort geschieht. »Ganz zu schweigen davon, dass du dich nicht wohlfühlst.« Ich drücke erneut seinen Arm und spüre, dass die gewohnte Wärme und das Kribbeln noch nicht ganz zurückgekehrt sind.

»Auch im Sommerland kann man etwas lernen.« Er lächelt. »Und wenn du mir meinen Saft gibst, geht's mir auch gleich wieder gut genug, um das Portal heraufzubeschwören.«

Doch auch nachdem ich ihm den Saft gegeben habe und er mehrere große Schlucke davon getrunken hat, kann er es nicht herbeiholen.

»Kann ich vielleicht helfen?«, frage ich und mustere seine schweißnasse Stirn.

»Nein ... ich ... also, ich hatte es beinahe. Lass mir noch ein paar Sekunden«, murmelt er und beißt die Zähne zusammen, entschlossen, sein Ziel zu erreichen.

Und ich lasse ihm die paar Sekunden. Ja, ich lasse die Sekunden zu Minuten werden, doch noch immer geschieht nichts.

»Das verstehe ich nicht.« Er blinzelt. »Das ist mir nicht mehr passiert, seit ... seit ich überhaupt erst gelernt habe, wie man es macht.«

»Vielleicht liegt es daran, dass du dich nicht wohlfühlst.« Er trinkt noch einen Schluck und dann noch einen und noch einen. Doch als er die Augen schließt und es erneut probiert, führt es zum selben Ergebnis wie zuvor.

»Darf ich es versuchen?«

»Vergiss es. Du kannst es nicht«, sagt er mit einem scharfen Unterton in der Stimme, den ich nicht persönlich zu nehmen versuche, da ich weiß, dass das mehr mit seiner Unzufriedenheit mit sich selbst zu tun hat als mit mir.

»Ich weiß, dass ich es nicht kann, aber ich dachte, du würdest es mir vielleicht beibringen, und dann könnte ich ...«

Doch ehe ich zu Ende sprechen kann, ist er vom Bett aufgestanden und geht vor mir auf und ab. »Es ist ein Prozess, Ever. Ich habe Jahre gebraucht, um zu lernen, wie man dorthin kommt. Du kannst nicht einfach zum Schluss des Buchs springen, ohne die Mitte zu lesen.« Er schüttelt den Kopf und lehnt sich gegen meinen Schreibtisch. Sein Körper ist steif und verspannt, und er weicht meinem Blick aus.

»Und wann hast du zum letzten Mal ein Buch gelesen, ohne Anfang, Mitte und Schluss bereits zu kennen?« Ich muss schmunzeln.

Als er mich ansieht, ist sein Gesicht ein Mosaik aus harten Kanten und Ecken, doch nur ganz kurz, denn dann seufzt er, geht auf mich zu und nimmt meine Hand. »Willst du es versuchen?«

Ich nicke.

Er mustert mich und bezweifelt eindeutig, dass es funktionieren wird, doch ihm liegt vor allem daran, mir einen Gefallen zu tun. »Okay, dann mach's dir mal bequem, aber schlag die Beine nicht so übereinander. Das schneidet das Chi ab.«

»Chi?«

»Ein Modewort für Energie.« Er lächelt. »Es sei denn, du willst den Lotussitz einnehmen, das ist natürlich völlig in Ordnung.«

Ich streife meine Flip-Flops ab, presse die Fußsohlen auf den mit Teppich bedeckten Boden und setze mich so bequem und entspannt hin, wie es meine Aufregung zulässt.

»Normalerweise erfordert es eine lange Reihe von Meditationen, doch um Zeit zu sparen und da du ja schon ziemlich fortgeschritten bist, gehen wir es gleich auf kürzestem Weg an, okay?«

Ich nicke, begierig darauf zu beginnen.

»Schließ die Augen, und stell dir einen schimmernden Schleier aus sanftem goldenem Licht vor, der direkt vor dir schwebt«, sagt er und umschlingt meine Finger.

Ich gehorche und male mir eine exakte Replik des Schleiers aus, der mich schon einmal dorthin gebracht hat, des Schleiers, den Damen vor mir ausgebreitet hat, um mich vor Drina zu retten. Und er ist so schön, so strahlend und leuchtend, dass mein Herz vor Freude anschwillt, als ich die Hand nach ihm ausstrecke, erpicht darauf, sie in diesen strahlenden Regen aus glitzerndem Licht zu tauchen, voller Sehnsucht danach, an diesen mystischen Ort zurückzukehren. Und gerade als meine Finger auftreffen und eintauchen wollen, verschwindet er aus meinem Blickfeld, und ich bin wieder in meinem Zimmer.

»Nicht zu fassen! Ich war so nah dran!« Ich wende mich an Damen. »Es war zum Greifen nah! Hast du es gesehen?«

»Du bist erstaunlich nahe gekommen«, bestätigt er. Und obwohl er mich zärtlich ansieht, wirkt sein Lächeln aufgesetzt.

»Und wenn ich es noch mal versuche? Wenn wir es diesmal gemeinsam versuchen?«, frage ich, ehe meine Hoffnungen zerplatzen, weil er den Kopf schüttelt und sich abwendet.

»Ever, wir haben es gemeinsam versucht«, knurrt er, wischt sich die Stirn und wendet sich ab. »Anscheinend bin ich kein besonders guter Lehrer.«

»Das ist doch lächerlich! Du bist ein großartiger Lehrer, du hast nur einen schlechten Tag, weiter nichts.« Doch als ich ihn ansehe, wird mir klar, dass er nicht umzustimmen ist. Also wechsle ich die Taktik und nehme die Schuld auf mich. »Es liegt an mir«, sage ich. »Ich bin eine schlechte Schülerin. Ich bin faul und nachlässig und denke die meiste Zeit nur darüber nach, wie ich dich vom Unterrichtsstoff abbringen kann, damit wir knutschen können.« Ich drücke seine Hand. »Aber darüber bin ich jetzt hinaus. Ich meine es ganz ernst. Gib mir einfach noch eine Chance, dann siehst du es.«

Er schaut mich an und bezweifelt, dass es klappen wird, doch da er mich nicht enttäuschen will, nimmt er mich bei der Hand, und wir versuchen es zusammen noch einmal, indem wir alle beide die Augen schließen und uns dieses wundervolle Portal aus Licht ausmalen. Und gerade als es Gestalt anzunehmen beginnt, kommt Sabine durch die Haustür und beginnt die Treppe hinaufzugehen, womit sie uns so erschreckt, dass wir in entgegengesetzte Ecken des Zimmers huschen.

»Damen, dachte ich's mir doch, dass das dein Auto ist in der Einfahrt.« Sie streift ihre Jacke ab und geht mit wenigen Schritten von der Tür zum Schreibtisch. An ihr klebt noch die aufgestaute Energie aus ihrem Büro, als sie ihm die Hand schüttelt und die Flasche betrachtet, die er auf dem Knie balanciert. »Du bist also derjenige, der Ever mit diesem Zeug angefixt hat.« Sie schaut mit zusammengekniffenen Augen und geschürzten Lippen zwischen uns hin und her, als hätte sie nun sämtliche erforderlichen Beweise beisammen.

Ich äuge zu Damen hinüber, während mir Panik in die Kehle steigt und ich mich frage, wie er es ihr erklären will. Doch er lacht nur und sagt: »Ertappt! Den meisten Leuten schmeckt es nicht, aber Ever findet es seltsamerweise gut.« Dann lächelt er auf eine Weise, die überzeugend oder gar charmant sein soll, was in meinen Augen beides gelingt.

Doch Sabine schaut ihn nur völlig ungerührt weiter an. »Sie scheint auf gar nichts anderes mehr Lust zu haben. Ich kaufe tütenweise Lebensmittel, aber sie isst nichts.«

»Das ist nicht wahr!«, protestiere ich, verärgert, dass sie schon wieder damit anfängt, noch dazu vor Damen. Doch als ich den Chai-Latte-Fleck auf ihrer Bluse sehe, wird mein Ärger zu Empörung. »Wo hast du denn den her?«, zische ich und zeige auf den Fleck, als wäre er ein Schandmal, ein Sinnbild der Anstößigkeit. Ich muss tun, was ich kann, um sie davon abzuhalten, in nächster Zeit wieder hinzugehen.

Sie schaut auf ihre Bluse herunter und reibt nachdenklich daran, ehe sie den Kopf schüttelt und mit den Achseln zuckt. »Ich bin mit jemandem zusammengestoßen«, sagt sie, und zwar auf so beiläufige, lässige, ja regelrecht abgehobene Weise, dass sie unmöglich auch nur annähernd so beeindruckt von Mufioz sein kann wie er von ihr.

»Und, steht unsere Verabredung zum Essen am Samstagabend noch?«, will sie wissen.

Ich schlucke schwer und dränge Damen telepathisch dazu, einfach nur zu nicken, zu lächeln und zuzustimmen, auch wenn er keine Ahnung hat, wovon sie redet, da ich ihm nichts davon erzählt habe.

»Ich habe für acht Uhr einen Tisch reserviert.«

Ich halte die Luft an und sehe zu, wie er lächelnd nickt, genau wie ich ihn beschworen habe. Er geht sogar noch einen Schritt weiter. »Würde ich mir niemals entgehen lassen«, sagt er verbindlich.

Er schüttelt Sabine die Hand und macht sich daran, die Treppe hinunterzusteigen.

Während ich ihn vor die Haustür begleite, versuche ich, ihm die Sache zu erklären. »Das mit dem Abendessen tut mir leid. Irgendwie hab ich wohl gehofft, sie wäre so beschäftigt, dass sie die ganze Sache vergisst.«

Er drückt mir die Lippen auf die Wange, ehe er in seinen Wagen steigt. »Sie macht sich Sorgen um dich. Will sichergehen, dass ich gut genug für dich bin, es ernst mit dir meine und dich nicht verletzen will. Glaub mir, das hatten wir alles schon. Und auch wenn es ein- oder zweimal ganz schön knapp war, habe ich meines Wissens die Prüfung immer bestanden.« Er lächelt.

»Ach ja, der strenge puritanische Vater«, sage ich und stelle ihn mir als den Inbegriff einer autoritären Elternfigur vor.

»Du würdest dich wundern.« Damen lacht. »Der reiche Grundbesitzer war ein viel strengerer Wächter. Trotzdem bin ich an ihm vorbeigekommen.«

»Vielleicht zeigst du mir eines Tages deine Vergangenheit«, sage ich. »Du weißt schon, dein Leben, bevor wir uns kennen gelernt haben. Dein Zuhause, deine Eltern, wie du so geworden bist...« Meine Stimme wird leiser, als ich den Schmerz in seinen Augen aufblitzen sehe und weiß, dass er darüber nach wie vor nicht sprechen will. Er macht regelmäßig dicht und verschanzt sich, was mich nur noch neugieriger macht.

»Nichts davon spielt eine Rolle«, sagt er, lässt meine Hand los und hantiert an den Spiegeln herum, alles nur, um mich nicht ansehen zu müssen. »Das Einzige, was zählt, ist das Jetzt.«

»Ja, aber Damen ...«, beginne ich und will erklären, dass ich nicht nur meine Neugier befriedigen will, sondern Nähe suche, ein Band zwischen uns, und mir wünsche, er würde mir diese Geheimnisse aus lange vergangenen Zeiten anvertrauen. Doch als ich ihn erneut ansehe, weiß ich, dass ich ihn nicht bedrängen darf. Außerdem ist es vielleicht an der Zeit, ihm einen kleinen Vertrauensvorschuss zu gewähren.

»Ich hab ja nur gedacht...«, sage ich und spiele am Saum meines T-Shirts herum.

Er sieht mich an, die Hand auf dem Schalthebel, bereit, den Rückwärtsgang einzulegen.

»Jetzt könntest du ja eigentlich diese Reservierung vornehmen, oder?«, sage ich, ehe ich die Lippen zusammenpresse und ihn direkt ansehe. »Du weißt schon, im Montage oder im Ritz?«, füge ich hinzu und halte die Luft an, während er mit seinen schönen Augen mein Gesicht studiert.

»Bist du sicher?«

Ich nicke. Klar bin ich sicher. Wir warten schon seit Hunderten von Jahren auf diesen Moment, also warum sollen wir es noch länger hinauszögern?

»Mehr als sicher«, sage ich und blicke ihm tief in die Augen.

Er lächelt, und zum ersten Mal an diesem Tag leuchtet seine Miene auf. Und ich bin so erleichtert, ihn wieder normal zu erleben, nach seinem seltsamen Verhalten von zuvor - seine Distanziertheit in der Schule, sein Unvermögen, das Portal erscheinen zu lassen, sein Schwächeanfall -, alles so untypisch für den Damen, den ich kenne. Er ist immer so stark, sexy, schön und unbesiegbar - immun gegenüber schwachen Momenten und schlechten Tagen. Ihn so verletzlich zu sehen hat mich weit mehr erschüttert, als ich zugeben will.

»Dein Wunsch ist mir Befehl«, sagt er und füllt meine Arme mit Dutzenden manifestiertet roter Tulpen, ehe er davonrast.

 

Der blaue Mond
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Der blaue Mond_split_000.html
Der blaue Mond_split_001.html
Der blaue Mond_split_002.html
Der blaue Mond_split_003.html
Der blaue Mond_split_004.html
Der blaue Mond_split_005.html
Der blaue Mond_split_006.html
Der blaue Mond_split_007.html
Der blaue Mond_split_008.html
Der blaue Mond_split_009.html
Der blaue Mond_split_010.html
Der blaue Mond_split_011.html
Der blaue Mond_split_012.html
Der blaue Mond_split_013.html
Der blaue Mond_split_014.html
Der blaue Mond_split_015.html
Der blaue Mond_split_016.html
Der blaue Mond_split_017.html
Der blaue Mond_split_018.html
Der blaue Mond_split_019.html
Der blaue Mond_split_020.html
Der blaue Mond_split_021.html
Der blaue Mond_split_022.html
Der blaue Mond_split_023.html
Der blaue Mond_split_024.html
Der blaue Mond_split_025.html
Der blaue Mond_split_026.html
Der blaue Mond_split_027.html
Der blaue Mond_split_028.html
Der blaue Mond_split_029.html
Der blaue Mond_split_030.html
Der blaue Mond_split_031.html
Der blaue Mond_split_032.html
Der blaue Mond_split_033.html
Der blaue Mond_split_034.html
Der blaue Mond_split_035.html
Der blaue Mond_split_036.html
Der blaue Mond_split_037.html
Der blaue Mond_split_038.html
Der blaue Mond_split_039.html
Der blaue Mond_split_040.html
Der blaue Mond_split_041.html
Der blaue Mond_split_042.html
Der blaue Mond_split_043.html
Der blaue Mond_split_044.html
Der blaue Mond_split_045.html
Der blaue Mond_split_046.html
Der blaue Mond_split_047.html
Der blaue Mond_split_048.html
Der blaue Mond_split_049.html
Der blaue Mond_split_050.html
Der blaue Mond_split_051.html
Der blaue Mond_split_052.html
Der blaue Mond_split_053.html
Der blaue Mond_split_054.html
Der blaue Mond_split_055.html